Urlaub - Erfüllung von Urlaubsansprüchen bei Urlaubsgewährung ohne Tilgungsbestimmung

In vielen Arbeitsverhältnisses ergeben sich die Urlaubsansprüche des Arbeitnehmers aus unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen.
So setzt sich der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers in der Regel aus dem gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG) und einem diesen übersteigenden – übergesetzlichen – Zusatzurlaub zusammen, der seine Grundlage im Arbeitsvertrag oder in einem Tarifvertrag hat. Gegebenenfalls kommt auch noch Zusatzurlaub im Fall einer Schwerbehinderung (§ 208 SGB IX) hinzu.

In einem nunmehr veröffentlichten Urteil vom 01.03.2022 (9 AZR 353/21) hat sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) erneut mit der Frage auseinandergesetzt, wie bzw. in welcher Reihenfolge Urlaubsansprüche aus verschiedenen Anspruchsgrundlagen erfüllt werden, wenn der Arbeitgeber bei der Gewährung des Urlaubs keine Tilgungsbestimmung vornimmt und insoweit entschieden:

Stehen dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr Ansprüche auf Erholungsurlaub zu, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen und für die unterschiedliche Regelungen gelten, findet § 366 BGB Anwendung, wenn die Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber nicht zur Erfüllung sämtlicher Urlaubsansprüche ausreicht. Nimmt der Arbeitgeber dabei keine Tilgungsbestimmung iSv. § 366 Abs. 1 BGB vor, findet die in
§ 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge mit der Maßgabe Anwendung, dass zuerst gesetzliche Urlaubsansprüche und erst dann den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende Urlaubsansprüche erfüllt werden.

Der neunte Senat des BAG hält im Ergebnis daran fest, dass bei Fehlen einer Tilgungsbestimmung zunächst gesetzliche Urlaubsansprüche und erst dann den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende, nur arbeits- oder tarifvertraglich begründete Urlaubsansprüche erfüllt werden. Hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 366 BGB sei die bisherige Rechtsprechung jedoch zu nuancieren und weiterzuentwickeln.
Bei der Erfüllung von Ansprüchen auf Erholungsurlaub aus demselben Urlaubsjahr, die auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen beruhen, sei § 366 BGB zwar nicht unmittelbar anzuwenden, weil zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und dem sich überschneidenden arbeits- bzw. tarifvertraglichem Mehrurlaub teilweise Anspruchskonkurrenz gegeben ist. Die Vorschrift bedürfe aber einer entsprechenden Anwendung, soweit der Tarifurlaub eigenständigen Regelungen unterliegt und den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigt.

Die Bestimmung der Tilgungsreihenfolge im Verhältnis des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF zu sonstigen Erholungsurlaubsansprüchen erfolgt dagegen in unmittelbarer Anwendung des § 366 BGB. Die Vorschrift gilt unmittelbar, wenn Urlaubsansprüche aus verschiedenen Zeitperioden (BAG 16. Juli 2013 – 9 AZR 914/11 – Rn. 18 f.) oder unterschiedliche Urlaubsansprüche Gegenstand der Betrachtung sind (BAG 7. August 2012 – 9 AZR 760/10 – Rn. 12, BAGE 143, 1).
Der Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen ist gegenüber dem gesetzlichen Mindesturlaub und arbeits- bzw. tarifvertraglichen Ansprüchen auf Erholungsurlaub ein iSv. § 366 BGB selbstständiger Anspruch. Auf den Zusatzurlaub sind zwar die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden (sog. „urlaubsrechtliche Akzessorietät“, st. Rspr. vgl. BAG 10. März 2020 – 9 AZR 109/19 – Rn. 11; 24. Oktober 2006 – 9 AZR 669/05 – Rn. 12, BAGE 120, 50). Er tritt jedoch dem Urlaubsanspruch hinzu, den der Beschäftigte ohne Berücksichtigung seiner Schwerbehinderung beanspruchen kann (BAG 24. Oktober 2006 – 9 AZR 669/05 – Rn. 13, aaO). Der Zusatzurlaub stockt damit sowohl den gesetzlichen Mindesturlaub nach §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG als auch den übergesetzlichen Mehrurlaub auf. Anders als bei einer arbeits- oder tarifvertraglichen Regelung, die hinsichtlich des Umfangs des Urlaubsanspruchs nicht zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen Urlaubsansprüchen differenziert und dadurch beide Ansprüche – soweit sie sich überlappen – zu einem einheitlichen Anspruch auf Erholungsurlaub verbindet, erhöht sich der dem Arbeitnehmer ohne Berücksichtigung seiner Schwerbehinderung zustehende Gesamturlaub um den Zusatzurlaub. Eine auch nur teilweise Überschneidung des insoweit selbstständigen Anspruchs auf Zusatzurlaub mit sonstigen Urlaubsansprüchen ist damit rechtlich ausgeschlossen, es sei denn, der Arbeits- oder Tarifvertrag räumt dem schwerbehinderten Arbeitnehmer konstitutiv einen Anspruch auf Schwerbehindertenzusatzurlaub ein.

Bei der Erfüllung von Erholungsurlaubsansprüchen aus einem Kalenderjahr, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen und für die unterschiedliche Regelungen gelten, ist die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge unter Berücksichtigung der Besonderheiten des gesetzlichen Mindesturlaubs und zur Vermeidung systemwidriger Ergebnisse zu modifizieren. Gewährt ein Arbeitgeber Erholungsurlaub, ohne eine Tilgungserklärung vorzunehmen, werden zuerst die gesetzlichen Urlaubsansprüche getilgt (so schon BAG 22. Januar 2002 – 9 AZR 601/00 – zu A I 1 der Gründe, BAGE 100, 189; 12. Januar 1989 – 8 AZR 404/87 – zu II 4 der Gründe, BAGE 61, 1).
Gemäß § 366 Abs. 2 BGB wird bei Fehlen einer Tilgungsbestimmung zunächst die fällige Schuld, unter mehreren fälligen Schulden diejenige, welche dem Gläubiger geringere Sicherheit bietet, unter mehreren gleich sicheren die dem Schuldner lästigere, unter mehreren gleich lästigen die ältere Schuld und bei gleichem Alter jede Schuld verhältnismäßig getilgt. Diese Tilgungsreihenfolge entspricht dem vermuteten Willen vernünftiger und redlicher Vertragsparteien. Widerspricht jedoch ausnahmsweise die gesetzlich normierte Reihenfolge ganz offensichtlich dem hypothetischen Parteiwillen, so ist allein dieser maßgebend (BGH 14. November 2000 – XI ZR 248/99 – zu II B 2 der Gründe; 27. Februar 1978 – II ZR 3/76 – zu II 2 der Gründe). Von der Tilgungsreihenfolge ist auch dann abzuweichen, wenn diese wegen der besonderen Eigenarten des konkreten Schuldverhältnisses von vornherein zu sinnwidrigen Ergebnissen führt (vgl. BGH 27. Februar 1978 – II ZR 3/76 – zu II 2 der Gründe; NK-ArbR/Düwell BUrlG § 7 Rn. 53; krit. Staudinger/Kern (2022) § 366 BGB Rn. 50).


Bundesgerichtshof, Urteil vom 01.03.2022 – 9 AZR 353/21

14.07.2022, 11:00
Kategorien: Veröffentlichungen
Rechtsgebiete: Arbeitsrecht