Zur Auslegung eines Vermächtnisses über ein Wertpapierdepot

Das OLG Frankfurt a. M. hatte sich in seiner Entscheidung vom 05.04.2022 (Az. 10 U 200/20) im Rahmen einer Testamentsauslegung mit der Frage zu beschäftigen, ob sich das Vermächtnis eines Wertpapierdepots auch auf den Wert von Rückzahlungen von Anleihen erstreckt, die nicht wieder in Wertpapieren angelegt, sondern auf ein Sparkonto eingezahlt wurden. Das OLG Frankfurt bejahte dies und sprach den Wert den Vermächtnisnehmern zu. Im Urteil des OLG Frankfurt heißt es:
1. Hat eine Erblasserin Wertpapiere im Wert von 780.000 € sechs Vermächtnisnehmern zur leichteren Abwicklung in der Form vermacht, dass der eingesetzte Alleinerbe die Papiere verkaufen und den Erlös an die Vermächtnisnehmer auskehren soll, ist auch hierauf die Auslegungsregel des § 2173 BGB anwendbar.

2. Weist das Wertpapierdepot im Todeszeitpunkt nur noch einen Wert von 101.000€ auf, weil - nach Testamentserrichtung erfolgte - Rückzahlungen aus Anleihen auf einem Festgeldkonto angelegt worden sind, muss der Erbe mithin beweisen, dass die Erblasserin nicht den Willen hatte, die Vermächtnisnehmer jedenfalls auch mit dem Sparvermögen zu bedenken, welches das Surrogat der Anleihen bildete.

Im entschiedenen Fall wurde sechs Vermächtnisnehmern ein Depot vermacht, das zum Zeitpunkt der Testamentserstellung einen Wert von 780.000 € hatte, zum Todeszeitpunkt jedoch nur noch 101.000 € wert war. Im Testament hieß es: „Ich ordne folgende von meinem Erben zu erfüllende Vermächtnisse an: Meine Wertpapiere in Höhe von derzeit 780.000 € bei der Bank … sollen verkauft werden. Den Erlös vermache ich den folgenden Personen zu je 1/6 Anteil:…“. Der Alleinerbe verkaufte die Wertpapiere und zahlte jedem der Vermächtnisnehmer 16.928 € aus. Diese verlangten jedoch jeder einen weiteren Anteil von 113.000 € (780.000 € : 6 abzüglich der bereits erhaltenen Summe) aus dem auf dem Sparkonto der Erblasserin vorhandenen Vermögen. Während das LG Limburg als erstinstanzliches Gericht dem Erben Recht gab und der Ansicht war, die Formulierung des Testaments sei so zu verstehen, dass eben nur die zum Todeszeitpunkt vorhandenen Wertpapiere maßgeblich seien, stellt das OLG Frankfurt auf die Auslegungsregel des § 2173 BGB ab und sprach den Vermächtnisnehmern auch die Erlöse aus den verkauften Anleihen zu. Besonderheit war hier, dass einer der Erben zugleich Generalbevollmächtigter der zum Zeitpunkt der Testamentserstellung bereits betagten Erblasserin war und die zum Fälligkeitszeitpunkt ausbezahlten Anleihen nicht erneut in Wertpapiere investierte, da er dies für zu risikoreich hielt. Ob das Urteil des OLG Frankfurt anders ausgegangen wäre, wenn die Erblasserin selbst entschieden hätte, das Wertpapierdepot umzugestalten, bleibt offen. Einen dahingehenden Willen der Erblasserin konnten die Erben im vorliegenden Fall jedenfalls nicht darlegen und beweisen.

OLG Frankfurt, Urteil vom 05.04.2022, AZ: 10 U 200/20

19.10.2022, 10:00
Kategorien: Veröffentlichungen
Rechtsgebiete: Erbrecht