Verfall von Zusatzurlaub schwerbehinderter Arbeitnehmer

Gemäß § 208 Abs. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf Zusatzurlaub von bis zu fünf Arbeitstagen pro Jahr.

Im Rahmen eines nunmehr veröffentlichten Urteils hat sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen der Zusatzurlaub zum Ende eines Urlaubsjahres verfällt.

In dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt hatte der klagende Arbeitnehmer einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt, worüber er den Arbeitgeber informiert hatte. Weiterhin hatte der Kläger seinen Arbeitgeber darüber informiert, dass der Antrag durch entsprechenden Bescheid im Jahre 2017 abgelehnt worden war. Im weiteren Verlauf erfuhr der Arbeitgeber jedoch erst im März 2019, dass der Kläger dagegen mit Erfolg das Widerspruchs- und Klageverfahren angestrengt hatte und dass dieser rückwirkend zum 11. August 2017 als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 50 anerkannt worden war. Daraufhin verlangte der Kläger Anfang April 2019 die Gewährung von Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen. Dieses Begehren lehnte die Beklagte für die Jahre 2017 und 2018 mit dem Hinweis ab, der Anspruch sei verfallen.

Im Rahmen des Urteils hat das BAG zunächst erneut klargestellt, dass der Anspruch auf Zusatzurlaub das objektive Vorliegen einer Schwerbehinderung voraussetzt und es nicht auf deren Feststellung durch die zuständige Behörde ankommt. Der Feststellungsbescheid des Versorgungsamts hat nach § 2 Abs. 2, § 152 SGB IX keine rechtsbegründende (konstitutive), sondern lediglich eine erklärende (deklaratorische) Wirkung. Der Anspruch auf Zusatzurlaub entsteht auch unabhängig davon, ob der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers Kenntnis hatte.

Hinsichtlich der Frage der Befristung und des Verfalls des Anspruchs auf Zusatzurlaub hat das BAG dargelegt, dass die Befristung ebenso wie der Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs grundsätzlich voraussetzt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor durch Erfüllung seiner Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt hat, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen. Der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen teilt – vorbehaltlich der nach § 13 BUrlG zulässigen kollektivrechtlichen oder vertraglichen Vereinbarungen – grundsätzlich das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs.

Dem Arbeitgeber ist danach regelmäßig die Berufung auf die Befristung und das Erlöschen des Zusatzurlaubsanspruchs versagt, wenn er seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in Bezug auf diesen Anspruch nicht erfüllt hat.

Allerdings ist die Befristung des Zusatzurlaubs nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es dem Arbeitgeber unmöglich war, den Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaub zu realisieren. Hiervon ist nicht nur auszugehen, wenn der Arbeitnehmer allein aufgrund einer lang andauernden Erkrankung daran gehindert war, den Urlaub in Anspruch zu nehmen, sondern auch, wenn es dem Arbeitgeber trotz gebotener Sorgfalt nicht möglich war, seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten zu erfüllen.

Hat der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers und ist diese nicht offenkundig, verfällt der Anspruch auf Zusatzurlaub auch dann gem. § 7 Abs. 3 BUrlG mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Der Arbeitgeber hat unter diesen Voraussetzungen keinen Anlass, vorsorglich auf einen Zusatzurlaub hinzuweisen und den Arbeitnehmer aufzufordern, diesen in Anspruch zu nehmen. Entsprechendes gilt, wenn der Arbeitnehmer einen Antrag auf Anerkennung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch gestellt hat, ohne seinen Arbeitgeber darüber zu unterrichten und ohne dass die Schwerbehinderung offensichtlich ist. Der Arbeitgeber kann erwarten, dass ein Arbeitnehmer ihm mitteilt, einen Antrag auf Anerkennung als schwerbehinderter Mensch gestellt zu haben, wenn er den Zusatzurlaub wahrnehmen möchte. Unterlässt der Arbeitnehmer die Mitteilung, kann er seine Rechte aus § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nach erfolgter Anerkennung nach Ablauf der gesetzlichen Verfallfristen nicht mehr in Anspruch nehmen. Weist er den Arbeitgeber nicht auf das eingeleitete Antragsverfahren hin, muss er davon ausgehen, dass der Zusatzurlaub nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfällt, weil er in dieser Situation nicht auf Veranlassung des Arbeitgebers davon abgehalten wird, seine Rechte geltend zu machen. Unterrichtet der (objektiv schwerbehinderte) Arbeitnehmer den Arbeitgeber über seinen (noch nicht beschiedenen) Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft, setzen Befristung und Verfall des Anspruchs auf Zusatzurlaub grundsätzlich die Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten durch den Arbeitgeber voraus.

Besonderheiten ergeben sich, wenn – wie im vorliegenden Fall – der dem Arbeitgeber bekannte Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung zunächst durch behördlichen Bescheid zurückgewiesen und die Schwerbehinderung aufgrund eines vom Arbeitnehmer eingelegten Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels später rückwirkend festgestellt wird.

Die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers bestehen in einem solchen Fall zunächst bis zu der ablehnenden Entscheidung der zuständigen Behörde. Bis dahin obliegt es dem Arbeitgeber, den Arbeitnehmer rechtzeitig entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zu unterrichten und ihn aufzufordern, den Urlaub vor Ablauf des Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums zur Vermeidung des Verfalls so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums gewährt und genommen werden kann. Die rechtzeitige Erfüllung der dem Arbeitgeber obliegenden Mitwirkungshandlungen stellt sicher, dass der Arbeitnehmer ab dem ersten Arbeitstag seit Antragstellung, dh. ab dem Zeitpunkt, auf den die Feststellung der Schwerbehinderung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX regelmäßig zurückwirkt, über seinen Zusatzurlaub disponieren kann. Ist der Arbeitgeber vor dem Erlass des ablehnenden Bescheids seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht rechtzeitig nachgekommen, unterliegt der Zusatzurlaubsanspruch, über den der Arbeitgeber den Arbeitnehmer bis dahin hätte rechtzeitig belehren können, nicht dem Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG. Der Ablehnungsbescheid ändert daran nichts mehr. Durch das Unterlassen der Mitwirkungshandlungen bringt der Arbeitgeber zum Ausdruck, den Zusatzurlaub nicht initiativ im Vorgriff auf die etwaige Feststellung der Schwerbehinderung zu erteilen, sondern zunächst den Ausgang des Anerkennungsverfahren abzuwarten, um den Zusatzurlaub ggf. später zu gewähren.

Ansprüche auf Zusatzurlaub, hinsichtlich derer der Arbeitgeber nicht rechtzeitig vor Ablehnung des Antrags seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachkommen konnte, erlöschen – auch ohne dass der Arbeitgeber zuvor seine Mitwirkungsobliegenheit erfüllt hat – mit Ablauf der gesetzlichen Verfallfristen, wenn der Arbeitnehmer den Arbeitgeber nicht rechtzeitig über den weiteren Gang des Anerkennungsverfahrens unterrichtet. Dem Arbeitnehmer obliegt es, den Arbeitgeber unverzüglich über die ablehnende Entscheidung der zuständigen Behörde sowie darüber zu informieren, ob er dagegen einen Rechtsbehelf eingelegt hat oder dies beabsichtigt. Der Arbeitgeber hat daran ein berechtigtes Interesse, weil er in aller Regel keine Kenntnis über den Stand des Verfahrens hat. Mit dem Ablehnungsbescheid, der das Ergebnis einer behördlichen Prüfung darstellt, kann sich die Prognose des Arbeitgebers ändern, ob dem Arbeitnehmer der besondere Schutz schwerbehinderter Menschen zusteht. Dem Arbeitnehmer obliegt es, den Arbeitgeber in die Lage zu versetzen, auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er dem Arbeitnehmer vorsorglich Zusatzurlaub gewähren und seine entsprechenden Mitwirkungsobliegenheiten erfüllen will, um sich ggf. später auf den Verfall nicht in Anspruch genommener Urlaubsansprüche berufen zu können.

Gemessen an den vorangestellten Grundsätzen war im zu entscheidenden Fall der Anspruch des Klägers auf Zusatzurlaub aus dem Jahr 2018 gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG mit Ablauf des Urlaubsjahrs verfallen, nicht jedoch der Zusatzurlaub aus dem Jahr 2017.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 26.04.2022 - 9 AZR 367/21

01.08.2022, 10:30
Kategorien: Veröffentlichungen
Rechtsgebiete: Arbeitsrecht