Update: Massenentlassungsanzeige - Fehlen der sog. Soll-Angaben

Wie bereits berichtet, hatte zuletzt ein Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 25.06.2021 (Az. 14 Sa 1225/20) für Aufsehen gesorgt, wonach im Rahmen von Massenentlassungsverfahren auch das Fehlen der sog. Soll-Angaben aus § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG (Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer) zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige und damit von Kündigungen führen würde. Nachdem sich bereits das Landesarbeitsgericht Düsseldorf mit Urteil vom 15.12.2021 (Az.: 12 Sa 347/21) gegen die Entscheidung des LAG Hessen gestellt und entschieden hatte, dass fehlende Soll-Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer i. S. v. § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG nicht zur Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige, und damit zur Unwirksamkeit von Kündigungen führen (wir hatten berichtet), hat nunmehr das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit Urteil vom 19.05.2022 (2 AZR 424/21) das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 25. Juni 2021 aufgehoben.

Der 2. Senat des BAG hat im Rahmen des Urteils festgestellt, dass eine im Zuge einer anzeigepflichtigen Massenentlassung ausgesprochene Kündigung nicht deshalb nach § 134 BGB nichtig ist, weil der kündigende Arbeitgeber vor dem Zugang der Kündigung nicht gegenüber der Agentur für Arbeit die Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG gemacht hat. Ein Verstoß gegen letztere Vorschrift führt nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige.

§ 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG sei nach dem im Gesetzeswortlaut, in der Gesetzessystematik und in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebrachten Willen des – nationalen – Gesetzgebers eindeutig nicht als Wirksamkeitsvoraussetzung für die Massenentlassungsanzeige ausgestaltet. Nur das Fehlen einer wirksamen Anzeige könne aber in unionsrechtskonformer Auslegung von § 17 Abs. 3 KSchG gemäß § 134 BGB zur Nichtigkeit einer im Rahmen der betreffenden Massenentlassung erklärten Kündigung führen.

Bei § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG handelt es sich um eine an den Arbeitgeber adressierte Sollvorschrift. Die Verletzung von an Private gerichteten Sollbestimmungen führt regelmäßig nicht zur Unwirksamkeit der betreffenden Rechtshandlung. Diese Regel wird für die Massenentlassungsanzeige bestätigt in der Begründung des Regierungsentwurfs vom 19. Oktober 1977 für das Zweite Gesetz zur Änderung des Kündigungsschutzgesetzes vom 27. April 1978 (BGBl. I S. 550), durch welches der jetzige Abs. 3 in § 17 KSchG eingefügt wurde. Danach ist der Inhalt der Anzeige in Bezug auf die in Satz 5 vorgesehenen Angaben „nur in einer Sollbestimmung festgelegt“ (BT-Drs. 8/1041 S. 5).

Zudem sei in gesetzessystematischer Hinsicht zu beachten, dass § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG vom Arbeitgeber zwar die Angabe der Zahl und der Berufsgruppen sowie der vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer verlangt, nicht hingegen die Individualisierung der Betroffenen (aA – insoweit nicht tragend – BAG 13. Juni 2019 – 6 AZR 459/18 – Rn. 25, BAGE 167, 102). Dann aber können die „personenbezogenen“ Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG keine „Muss-Angaben“ sein. Dies gilt auch, wenn der Arbeitgeber sie bei Erstattung der Massenentlassungsanzeige bereits machen könnte.

§ 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG sei auch nicht im Hinblick auf die Vorgaben der Richtlinie 98/59/EG vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (MERL), geändert durch die Richtlinie (EU) 2015/1794 vom 6. Oktober 2015, als eine die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige bestimmende Mussvorschrift zu verstehen. Davon hat der Senat ohne ein darauf bezogenes Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV auszugehen.


Bundesgerichtshof, Urteil vom 19.05.2022 – 2 AZR 424/21

28.07.2022, 13:45
Kategorien: Veröffentlichungen
Rechtsgebiete: Arbeitsrecht