Unfall mit Rettungsfahrzeug: Sonderrecht nicht gleich Vorfahrtsrecht – erhöhte Betriebsgefahr des Krankenwagens

An einem Nachmittag Ende Juni 2020 kam es auf einer Kreuzung in Nürnberg zu einer Kollision zwischen einem Motorrad und einem Krankenwagen. Fahrer des Motorrads war der Sohn der Klägerin, welche Eigentümerin des Motorrads ist. Das Motorrad fuhr in die Kreuzung ein, als der Krankenwagen aus Sicht des Motorradfahrers von rechts kommend in die mit Ampeln geregelte Kreuzung einfuhr. Das Motorrad kollidierte mit der linken Seite des Krankenwagens auf Höhe dessen Hinterachse. Am Motorrad entstand ein Totalschaden.

Die Klägerin begehrte Schadensersatz vom Fahrer und vom Halter des Krankenwagens und von dem dahinterstehenden Kraftfahrzeughaftpflichtversicherer als Gesamtschuldner. Die Klage vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth hatte überwiegend Erfolg.

Die Klägerin trug vor, der Krankenwagen sei bei Rotlicht in die Kreuzung eingefahren. Für ihren Sohn, der mit weniger als 50 km/h bei Grünlicht in die Kreuzung einfuhr, sei der Krankenwagen wegen eines weiteren Fahrzeugs rechts von ihm nicht erkennbar gewesen. Unter Missachtung der gebotenen Sorgfalt und mit zu hoher Geschwindigkeit sei der Krankenwagen dann bei Rot in die Kreuzung eingefahren. Ferner hätten die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Sonderrechten nicht bestanden. Auch hafte der Fahrer des Krankenwagens persönlich, da der Beklagte zu 1 als e.V. privatwirtschaftlich agiere.

Demgegenüber behaupteten die Beklagten, dass der Fahrer nicht bei Rotlicht in die Kreuzung eingefahren sei. Die Lichtzeichenanlage habe für ihn vielmehr Gelblicht angezeigt, als er mit Blaulicht und Martinshorn mit ca. 12 km/h in die Kreuzung eingefahren sei. Der Motorradfahrer habe sich der Kreuzung mit überhöhter Geschwindigkeit angenähert und sei mit fliegendem Start bereits beim Umschalten von Rot auf Gelb in die Kreuzung eingefahren. Bei Anwendung der erforderlichen Aufmerksamkeit sei der Krankenwagen für ihn durch das Blaulicht und das Martinshorn rechtzeitig erkennbar gewesen, um die Kreuzung zu räumen.

Ein direkter Anspruch der Klägerin gegen den Fahrer des Rettungswagens wurde vom erkennenden Gericht verneint, weil er den Rettungswagen in Ausübung eines öffentlichen Amtes geführt habe. Denn in diesem Fall hafte laut Art. 34 S. 1 GG nicht der Fahrer persönlich, sondern der Staat bzw. die Körperschaft, in deren Dienst der Fahrer steht. Seine persönliche Haftung nach § 839 BGB trete dann dahinter zurück. Die Ersatzpflicht des Kraftfahrzeugführers nach § 18 StVG werde als Verschuldenshaftung wiederum durch § 839 BGB verdrängt.

Im Übrigen gelangte das Gericht nach den getroffenen Feststellungen, insbesondere den Zeugenvernehmungen und nach dem eingeholten unfallanalytischen Gutachten zu einer Haftungsverteilung von 80 % zu 20 % zu Lasten des Rettungswagens.

Nach der durchgeführten Beweisaufnahme gelangte das Gericht zur Überzeugung, dass der Rettungswagen auf dem Weg zu einem Notfalleinsatz unter Einsatz von Blaulicht und Martinshorn bei Rotlicht in die Kreuzung eingefahren sei. Bei einer Geschwindigkeit von etwa 13 km/h sei es dann dort zu einer Kollision mit dem aus einer Annäherungsgeschwindigkeit von etwa 45 km/h auf eine Restgeschwindigkeit von ca. 20 km/h abgebremsten Motorrad gekommen. Für den Rettungswagenfahrer sei das sich nähernde Motorrad angesichts der nach links eingeschränkten Sichtverhältnisse in einer Entfernung von ca. 15 m zur Kollisionsstelle erkennbar gewesen. Dies hätte eine die Kollision vermeidende Reaktion noch ermöglicht. Für den Fahrer des Motorrades sei der Rettungswagen wegen der erschwerten akustischen Wahrnehmbarkeit des in die Kreuzung einfahrenden Rettungswagens, insbesondere infolge des übrigen Verkehrslärms und des von ihm getragenen Sturzhelms, der die Wahrnehmbarkeit von Geräuschen generell einschränke, nicht früher als zwei Sekunden vor der Kollision erkennbar gewesen. Deshalb sei ihm eine unfallvermeidende Reaktion zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich gewesen.

Auf ein haftungsausschließendes unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG könnten sich weder die Klägerin noch die Beklagten berufen. Ein solches liege nicht nur bei absoluter Unvermeidbarkeit des Unfalls vor, sondern auch dann, wenn dieser bei Anwendung der äußersten möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte. Hierzu gehöre ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 BGB hinaus, sodass der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalls geltend machen wolle, sich wie ein "Idealfahrer" verhalten haben müsse. Dabei dürfe sich die Prüfung aber nicht auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein "Idealfahrer" reagiert habe, vielmehr sei sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein "Idealfahrer" überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre. Denn der sich aus einer abwendbaren Gefahrenlage entwickelnde Unfall werde nicht dadurch unabwendbar, dass sich der Fahrer in der Gefahr nunmehr (zu spät) "ideal" verhalte. Damit verlange § 17 Abs. 3 StVG, dass der "Idealfahrer" in seiner Fahrweise auch die Erkenntnisse berücksichtigt, die nach allgemeiner Erfahrung geeignet sind, Gefahrensituationen nach Möglichkeit zu vermeiden. Für die Unabwendbarkeit im Rahmen des § 17 Abs. 3 StVG sei schließlich derjenige beweisbelastet, der sich auf sie berufe.

Auf Beklagtenseite war nach Meinung des Gerichts ein unabwendbares Ereignis schon deshalb auszuschließen, weil der Fahrer des Krankenwagens gegen § 35 Abs. 8 StVO verstoßen habe. Ebenso sei es aber auch der Klägerin nicht gelungen, den Beweis eines tatsächlich unabwendbaren Ereignisses für den Fahrer ihres Motorrades mit hinreichender Sicherheit zu führen. Zwar sei durch die eingeschränkte Wahrnehmbarkeit des Martinshorns eine Gefahrenaufforderung für den Motorradfahrer nicht "deutlich früher" als 2 Sekunden darstellbar. Dies lasse aber nicht den hinreichend sicheren Schluss zu, dass bei gebotener sorgfältiger Beobachtung des Kreuzungsbereichs und entsprechender, auch akustischer Konzentration auf den Verkehrsraum vor ihm, eine unfallvermeidende frühere Reaktion für den Motorradfahrer nicht doch möglich gewesen wäre.

Im Verhältnis der Fahrzeugführer zueinander hinge die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen ab, insbesondere davon, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Abwägung im Rahmen des § 17 Abs. 1 StVG sei aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie sei hierbei nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung. Dabei dürfen nur feststehende Umstände berücksichtigt werden, die sich erwiesenermaßen auf den Unfall ausgewirkt haben.

Die Betriebsgefahr des Krankenwagens sei in zweierlei Hinsicht erhöht. Dem Fahrer des Krankenwagens traf kein schuldhafter Rotlichtverstoß, weil er mit dem von ihm gefahrenen Rettungswagen nach § 35 Abs. 5a StVO von den Vorschriften der StVO und damit auch von der Halteaufforderung der "Rot" anzeigenden Ampel aus § 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7 StVO befreit war. Diese "Befreiung" gebe ihm als solche jedoch kein Vorfahrtsrecht. Vielmehr gelte auch für die Fahrzeuge des Rettungsdienstes § 35 Abs. 8 StVO, wonach die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden dürfen. Und genau gegen diese Vorschrift habe der Krankenwagenfahrer beim Einfahren in die Kreuzung verstoßen. Daneben sei die Betriebsgefahr des Rettungswagens auch schon deshalb objektiv erhöht gewesen, weil dieser bei eigenem Rotlicht in eine für den querenden Verkehr mit Grünlicht freigegebene Kreuzung eingefahren ist.

Aber auch die Betriebsgefahr des Motorrades sei in objektiver Hinsicht erhöht gewesen. Ein Verstoß des Motorradfahrers gegen einen Vorrang des Rettungswagens nach § 38 Abs. 1 S. 2 StVO lag nach Meinung des Gerichts nicht vor. Nach dieser Vorschrift müssen andere Verkehrsteilnehmer dem Einsatzfahrzeug bei Einsatz von Blaulicht und Martinshorn sofort freie Bahn schaffen. Allerdings könne ein Vorrang dieses Wegerechtsfahrzeuges nur dann geschaffen werden, wenn Blaulicht und Einsatzhorn zusammen so eingeschaltet werden, dass den übrigen Verkehrsteilnehmern ein ausreichender, wenn auch kurz bemessener Zeitraum zur Verfügung steht, um unter Berücksichtigung der konkreten Situation hierauf angemessen reagieren zu können. Denn der Fahrer eines Wegerechtsfahrzeugs müsse sich immer bewusst sein, dass andere Verkehrsteilnehmer der Verpflichtung, ihm freie Bahn zu schaffen, erst nachkommen können, nachdem sie diese Signale wahrgenommen haben oder bei gehöriger Aufmerksamkeit hätten wahrnehmen müssen. Der Klägerin sei der erforderliche Nachweis, dass für den Motorradfahrer der Rettungswagen trotz Einsatzes von Blaulicht und Martinshorn so rechtzeitig hätte wahrgenommen werden können, dass eine rechtzeitige und gefahrlose Reaktion hierauf noch möglich gewesen wäre, nicht gelungen.

Jedoch stünde fest, dass der vom Motorradfahrer getragene Schutzhelm die rechtzeitige akustische Wahrnehmbarkeit des Rettungswagens beeinträchtigte. Damit sei auch die Betriebsgefahr des Motorrades erhöht gewesen. Denn die Tatsache, dass der Motorradfahrer nach § 21a Abs. 2 StVO verpflichtet ist, einen Schutzhelm zu tragen, ändere nichts daran, dass die so beeinträchtigte Wahrnehmbarkeit, z.B. eines Martinshorns, die objektive Betriebsgefahr des insoweit "träger reagierenden" Motorrads für Dritte unfallursächlich erhöhte.

Im Rahmen der konkreten Abwägung der beiderseitigen Betriebsgefahren sei also zuvorderst darauf abzustellen, dass die wesentliche Ursache für die Kollision im Einfahren des Krankenwagens bei Rotlicht in die Kreuzung gelegen habe. Weil dem Fahrer des klägerischen Motorrades ein schuldhaftes Fehlverhalten in der konkreten Situation nicht nachgewiesen werden könne, müsse die ganz überwiegende Haftung auf Beklagtenseite liegen. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der dem Krankenwagenfahrer treffende Schuldvorwurf angesichts der relativ geringen Einfahrgeschwindigkeit nicht schwer wiege. Denn objektiv massive Erhöhung der Betriebsgefahr des in eine grundsätzlich "gesperrte" Kreuzung einfahrenden Rettungswagens bleibe davon unberührt. Die Tatsache, dass der behelmte Motorradfahrer "bauartbedingt" den Rettungswagen akustisch nicht rechtzeitig wahrnehmen konnte, wiege demgegenüber deutlich weniger schwer, lasse aber ein völliges Zurücktreten der Betriebsgefahr des Motorrads nicht zu.


Landgericht Nürnberg-Fürth, Urteil vom 08.04.2021 - 2 O 6051/20

25.07.2022, 10:15
Kategorien: Veröffentlichungen
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht