Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen – Berücksichtigung der Rentennähe

Vor Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung hat der Arbeitgeber nach § 1 Abs. 3 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) eine soziale Auswahl unter Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters, der Unterhaltspflichten und einer etwaigen Schwerbehinderung des Arbeitnehmers vorzunehmen.

Die soziale Auswahl bezieht sich dabei auf alle horizontal vergleichbaren Arbeitnehmer des Betriebs, die diesem länger als sechs Monate angehören und deren Arbeitsverhältnis nicht befristet oder aufgrund gesetzlicher Regelungen ordentlich unkündbar ist.

Durch die Einbeziehung des Lebensalters in die Sozialauswahl soll Berücksichtigung finden, dass sich die Vermittlungschancen am Arbeitsmarkt für ältere Arbeitnehmer schwieriger gestalten, und dass jüngeren Mitarbeitern die Schwierigkeiten infolge der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz eher zuzumuten sind. Wegen des Bezugs des Lebensalters auf die Vermittlungschancen am Arbeitsmarkt sind jedoch trotz ihres Lebensalters diejenigen Arbeitnehmer, die bereits Regelaltersrente beziehen können, deutlich weniger schutzbedürftig.

Im Rahmen einer aktuellen Entscheidung vom 08.12.2022 (Az. 6 AZR 31/21) hat das Bundearbeitsgericht insoweit erneut festgestellt, dass bei der Gewichtung des Lebensalters im Rahmen der Sozialauswahl zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden kann, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Das Gleiche gelte, wenn der Arbeitnehmer rentennah ist, weil er eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann. Lediglich eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen dürfe insoweit nicht berücksichtigt werden.

Das BAG hat im Rahmen der Entscheidung ausgeführt, dass es Sinn und Zweck der sozialen Auswahl sei, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Das Auswahlkriterium „Lebensalter“ ist dabei ambivalent. Zwar nimmt die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie fällt aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) – verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht. Diese Umstände können der Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Insoweit billigen ihnen § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO einen Wertungsspielraum zu.
Im Streitfall stellte sich die zunächst ausgesprochene Kündigung im Ergebnis dennoch als unwirksam dar, weil die Auswahl der Klägerin allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ erfolgte und deswegen grob fehlerhaft war.


Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 08.12.2022 –6 AZR 31/21
Pressemitteilung 46/22 vom 08.12.2022

09.12.2022, 14:30
Kategorien: Veröffentlichungen
Rechtsgebiete: Arbeitsrecht