Mithaftung wegen Überschreitung der Richtgeschwindigkeit auf der AutobahnNeue Blog-Eintrag

In seinem Urteil vom 01.06.2022 entschied das Oberlandesgericht München über die Frage, ob die bloße Überschreitung der Autobahnrichtgeschwindigkeit von 130 km/h eine Mithaftung des Unfallgeschädigten begründen kann.

Das Fahrzeug des Klägers fuhr am 19.08.2019 auf der BAB2 mit einer Geschwindigkeit von deutlich über 130 km/h von hinten auf das Wohnmobil des Beklagten auf, nachdem dieser den Fahrstreifen gewechselt hatte.

Die Vorinstanz, das Landgericht München I (Urteil vom 30.09.2021 - 19 O 6974/20), ging von der alleinigen Haftung des Beklagten als Spurwechsler aus, der gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 StVO verstoßen habe. Dem Kläger könne demgegenüber mangels Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit an der Unfallstelle weder ein Geschwindigkeitsverstoß noch ein sonstiger schuldhafter Verstoß gegen Sorgfaltspflichten zu Last gelegt werden. Die einfache Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs trete dabei vollständig hinter das grobe Verschulden des Spurwechslers zurück.

Gegen dieses Urteil legte die Beklagtenseite erfolgreich Berufung ein.

Das OLG München gab dem Beklagten Recht und stellte eine Mithaftung des Klägers in Höhe von 25 % fest.

Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile nach § 17 Abs. 1 StVG treffe den Spurwechsler bei einem Verstoß gegen die Sorgfaltsanforderungen des § 7 StVO zwar regelmäßig die Alleinhaftung, weil die einfache Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs hinter diesen groben Verkehrsverstoß vollständig zurücktrete. Eine Mithaftung des anderen Unfallbeteiligten komme daher grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn der Spurwechsler Umstände nachweise, die ein Mitverschulden des anderen Unfallbeteiligten belegen, was hier nicht festgestellt werden könne.

Allerdings sei dem Kläger im zu entscheidenden Fall eine Mithaftung unter dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs anzulasten. Ausweislich der in der Vorinstanz getroffenen Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen habe der Kläger mit seinem Fahrzeug die auf Autobahnen geltende Richtgeschwindigkeit von 130 km/h im Kollisionszeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von etwa 200 km/h deutlich überschritten, den Unfall aber bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit vermeiden können.

Grundsätzlich sei bei deutlicher Überschreitung der Richtgeschwindigkeit die Betriebsgefahr zu Lasten des im Übrigen schuldlos an einem Verkehrsunfall Beteiligten zu berücksichtigen. Dies schließe zwar andererseits nicht aus, dass die Betriebsgefahr im Einzelfall hinter einem groben Verschulden des Unfallverursachers zurücktrete. Bei einer - wie im gegenständlichen Fall - eklatanten Überschreitung der Richtgeschwindigkeit des Klägerfahrzeugs um ca. 70 km/h sei dieses jedoch betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen. Denn wer schneller als 130 km/h fahre, vergrößere in haftungsrelevanter Weise die Gefahr, dass sich ein anderer Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellt und insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzt. Auch wenn die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h nach der Autobahn-Richtigkeitsgeschwindigkeits-Verordnung keinen Schuldvorwurf begründe, bedeute das Fehlen unmittelbarer Sanktionen nicht die rechtliche Irrelevanz auch für das Haftungsrecht. Neben dem Umstand, dass regelmäßig ein oberhalb der Richtgeschwindigkeit fahrender Kraftfahrer den Unabwendbarkeitsnachweis für den Unfall nicht führen könne, wirke sich eine hohe Ausgangsgeschwindigkeit auch dahingehend aus, dass sie bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge nicht außer Ansatz bleiben könne.


Oberlandesgericht München, Endurteil vom 01.06.2022 – 10 U 7382/21 e

10.08.2022, 10:30
Kategorien: Veröffentlichungen
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht