Auch im Stau gilt Vorfahrtsrecht auf Fahrspur gegenüber Beschleunigungsstreifen

In § 18 Abs. 3 StVO wird bestimmt, dass der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn “die Vorfahrt” hat. Nach Auffassung des OLG Celle greift dieses Vorfahrtsrecht für den Verkehr auf der Fahrspur gegenüber dem Verkehr auf dem Beschleunigungsstreifen auch dann, wenn der Verkehr auf der Fahrspur im Stau steht. Denn der Begriff der Vorfahrt leite sich nicht etwa aus einer Bewegung ab, sondern vielmehr aus einem “Vorrecht”.

Der Entscheidung lag ein Verkehrsunfall zwischen einem Sportwagen und einem LKW auf der zweispurigen Autobahn zugrunde. Der Sportwagen wollte von der Raststätte kommend über den Beschleunigungsstreifen wieder auf die Autobahn auffahren. Auf der rechten Fahrspur herrschte aber Stau, sodass der Sportwagen, der noch die durchgezogene Linie am Beginn des Beschleunigungsstreifens überfahren hatte, dann auf der rechten Fahrspur quer vor dem LKW (im toten Winkel) stehen bleiben musste. Der LKW-Fahrer übersah den Sportwagen und fuhr diesem auf.

Der Schadensersatzklage des Sportwagenfahrers gab die Vorinstanz noch zu 75 % statt. Anders sah es das OLG Celle in der Berufung und nahm die umgekehrte Haftungsverteilung vor, nämlich von 75 % zu 25 % zu Lasten des Sportwagenfahrers, der den Unfall wegen mehrerer Verkehrsverstöße, insbesondere wegen Missachtung des Vorfahrtsrechts des LKW-Fahrers aus § 18 Abs. 3 StVO, selbst verursacht habe. Denn der gegenteiligen Ansicht des OLG Hamm (Bußgeldsenat, Beschluss vom 03.05.2018 – III-4 RBs 117/18), dass nur fahrende Fahrzeuge bevorrechtigt sein sollen, sei nicht zu folgen. Das in § 18 Abs. 3 StVO geregelte Vorfahrtsrecht gelte auch dann, wenn auf der bevorrechtigten Fahrbahn Stau herrscht, weil das Wort “Vorfahrt” sich nicht ableite aus seiner Bewegung, einem “Fahren”, sondern aus einem “Vorrecht”. So sei doch etwa auch die Vorschrift des § 7 Abs. 5 StVO, die den Fahrstreifenwechsel regelt, auch gegenüber einem nur verkehrsbedingt stehenden Fahrzeug zu beachten. Ein nur verkehrsbedingtes, staubedingtes Stehenbleiben sei kein Anhalten, sondern vielmehr ein Warten, das dem unterbrochenen Verkehrsvorgang des fließenden Verkehrs zuzurechnen sei.

Demgegenüber sei dem LKW-Fahrer kein Verkehrsverstoß vorzuwerfen. Lediglich die erhöhte Betriebsgefahr des LKWs begründe dessen Mithaftung in Höhe von 25 %.


OLG Celle, Urteil vom 23.06.2021 – 14 U 186/20

15.07.2021, 14:00
Kategorien: Veröffentlichungen
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht